Dieser Artikel ist Teil unserer Zeitung zur Kommunalwahl 2025.
Autor*in: Anarchistische Gruppe Dortmund
Ein sommerlicher Tag im Juli geht zu Ende. Ich sitze abends in meinem WG-Zimmer im Dortmunder Norden, als ich diese Zeilen schreibe. Die anderen sitzen noch diskutierend in der Küche, ich versuche die Diskussion festzuhalten: Wie sollen wir als Anarchist*innen mit den kommenden Wahlen umgehen?
Ein geschätzter Kollege meinte noch: „Wir müssen auf jeden Fall alle Die Linke wählen.“ – „Wieso?“ – „Na, weil sonst die Stimmen an die Rechten gehen! Und weil es doch gerade JETZT wichtig ist, Linke zu unterstützen. Wir brauchen jetzt Linke im Parlament oder willst du Nazis an der Macht?“
Die Diskussion war hitzig und jetzt spüre ich auch, wie stickig es in meinem Zimmer ist. Ich fühle den Schweiß auf meiner Haut. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Es waren heute 36 °C – hier in den grauen Betonschluchten sind es dann meist eher über 40 °C. Früher war es im Sommer selten so warm. Ich öffne das Fenster – ein Luftzug weht über das Papier und meine Haut.
Ich war noch nie wählen in meinen Leben. Und ehrlich gesagt fehlt es mir nicht. Es ist immer unterhaltsam, die ganze aufgeregte Wähler*innenschaft zu sehen, wenn ich das sage. All die moralischen Verurteilungen. All die Vorwürfe, ich sei schuld am Aufstieg der AfD. Es ist eine typische Täter*in-Opfer Umkehr. Mehr als lachen kann ich darüber nicht. Auch ich kenne ja die Versuchung, das Versprechen des Staates zu glauben. So gibt uns der Staat mit Wahlen das Gefühl, dass die Lösung so nahe liege. Ich will Menschen keinen Vorwurf machen, die wählen gehen. Sie sollen und können das selbst entscheiden. Ich kann nur schildern, warum ich mich dafür nicht interessiere.
Ich gehe nicht wählen, weil ich nicht glaube, was wir uns dazu erzählen. Ich glaube nicht, dass Reformen ein wichtiger Schritt auf dem Weg in eine befreite Gesellschaft sind. Ich glaube nicht, dass ich den Aufstieg der Rechten zu verantworten habe. Und ich glaube nicht, dass der Staat ein legitimes und effektives Mittel ist, um grundlegende gesellschaftliche Veränderung zu erreichen.
Mir scheint es offensichtlich, dass Reformen den Staat und nicht soziale Bewegungen stärken. Reformen kommen als Zuckerli zum Einsatz, wenn das Pferd der Bevölkerung, auf dem der Staat reitet, sich als soziale Bewegung aufbäumt; wenn soziale Bewegungen sich nicht als Partei einhegen lassen und so Teil des etablierten Machtapparats werden, sondern weitere und grundlegendere Forderungen stellen und die Legitimität des Staates deutlich sichtbare Kratzer bekommen hat. Fridays for Future und die Letzte Generation haben mir als aktuellstes Beispiel noch mal sehr deutlich gezeigt, dass die dominanten Strukturen mit Repression und Reformen reagieren, wenn sie sich bedroht fühlen.
Uns als queeren organisierten Anarchist*innen vorzuwerfen, dass wir für den Aufstieg der AfD und den Rechtsruck der Gesellschaft verantwortlich seien, ist eine Täter*in-Opfer-Umkehr. Nicht wir, sondern die Leute in der AfD, organisierte Rechte und ihre Unterstützer*innen sind dafür verantwortlich. Meist soll dieses Argument Schuldgefühle hervorrufen und mich dazu bringen, die Wahl der einen oder anderen Partei als unausweichlich zu sehen. Unser Antifaschismus ist anarchistisch und lehnt deshalb den Staat als antifaschistischen Bezugspunkt ab. Lasst uns gerne weitere Strategien diskutieren, einige Vorschläge dazu mache ich noch.
Genauso will ich als Anarchist*in nicht die Machtstrukturen im Staat übernehmen oder nutzen, denn das lehne ich ganz grundsätzlich ab. Wir denken, dass es nicht eine andere Ausübung der Macht braucht, sondern eine grundlegend andere Organisierung der Gesellschaft und der damit einhergehenden Macht. Wir lehnen die Zwangsinstitutionen wie Justiz, Polizei, Geheimdienste, Militär und andere Ordnungsbehörden ab. Genauso lehnen wir Parteien ab, die sich diese Institutionen zunutze machen wollen. Und wir wissen auch, dass staatliche Linke anstreben, diese Institutionen für ihre Zwecke zu nutzen. Wir wollen kollektive Selbstbestimmung statt organisierten Zwang.
Mittlerweile ist die Sonne untergegangen, ich schalte das Licht auf meinem Schreibtisch an. Die trockenen Äste des verdorrten Baums vor meinem Fenster ragen wie das Skelett einer absterbenden Gesellschaftsordnung in den Himmel.
Was ist es für eine sogenannte Demokratie, die da verteidigt wird? Es ist die Demokratie der wenigen, der reichen weißen cis hetero endo gebildeten Männer. Für eine Demokratie, in der Mitbestimmung für die allermeisten Menschen die Möglichkeit bedeutet, alle paar Jahre ein Kreuz zu machen, während im Alltag das Diktat der Befehlskette im Betrieb eingehalten werden muss. Für das Wählen zu argumentieren, hält nur die staatliche Erzählung von der universellen gerechten Demokratie aufrecht.
Also was statt wählen? Wir, hier bei uns, wollen eine freie und solidarische Gesellschaft, dafür brauchen wir andere Bezugspunkte. Für uns bedeutet das, autonom zu werden. Das Alte wird zunehmend an Bedeutung verlieren. Also schlagen wir vor, wie wir es immer schon gemacht haben: zu enteignen, zu kollektivieren, zu bekämpfen, zu organisieren und verdammt nochmal endlich das Leid und die Zerstörung zu beenden.
Es gibt so unglaublich viel zu tun. Wählen gehen scheint mir dabei wirklich vernachlässigbar.
Jetzt werden Menschen sagen: Aber das lässt sich ja gar nicht vergleichen, einmal alle 4 Jahre wählen zu gehen oder sich auf eine gesellschaftliche Neuorganisierung auszurichten. Das stimmt. Aber dann hört bitte auf von einer befreiten Gesellschaft zu reden. Die wird sich nicht herbeiwählen lassen, sondern erkämpft und in Verbindung mit deinem konkreten Alltag und den konkreten Menschen, die du kennst, etabliert. Das lässt sich nicht delegieren. Deine Befreiung wirst du nur selbst zu verantworten haben, das nicht alleine, aber du wirst deine Hauptrolle darin spielen. Also schließe ich mein Notizbuch, in das ich diesen Text geschrieben habe mit der persönlichen Empfehlung, sich das eigene Leben zurückzuholen, statt einfach wählen zu gehen und stelle folgende Frage:
Wer kann es sich noch leisten, auf den Staat zu hoffen und wer spürt bereits, dass der Staat unser Feind ist und beginnt sich konkret, kollektiv und autonom dagegen zu organisieren?